Wenn man nach all den Jahren der Zeit an der Universität einmal innehält und betrachtet, denken nennen wir das, und ganz zufällig die eigentümliche Stille des Dorflebens um sich hat, wo die Grillen zirpen und man das Gefühl hat, das die Sterne zu einem sprechen und man aus tausend Stimmen zu sich spricht, denken nennen wir das, so erscheint die Zeit an der Universität recht paradox im Leben eines Menschen.

Heute scheint die Universität für viele junge Muslime noch mehr als früher eine Option der Lebensgestaltung zu sein. Was ist es aber was die Universität so anziehungsreich macht, und viel wichtiger ist die Frage, was sollte den Muslim eigentlich an die Universität ziehen. Welche Triebfeder seines Herzens könnte ihn an einen Ort ziehen, der so beschaffen ist wie die Universität? Doch wie ist die Universität eigentlich beschaffen? Ja, was ist sie eigentlich, die Universität?

Doch zunächst müssen Fragen gestellt werden, und Fragen müssen offen gelassen werden, denn nur der Mensch ist das Wesen, das etwas offen lassen kann, im Vagen halten kann, da es zum Menschsein gehört diese Offenheit zu haben und frei zu sein, da der Mensch sich selbst immer eine Frage bleiben muss. Fragen wir also! Was ist das für ein Ort die Universität? Warum ist sie überhaupt ein Ort? Was für Menschen verkehren dort? Warum dort und nicht woanders? Warum sie und nicht andere? Was ist das Studieren? Und was studiert man da eigentlich?  Wie soll man auf solche Fragen antworten? Alle einfachen Antworten werden das Verständnis der Sache zwanghaft nur verstellen. Lassen wir die Fragen erst einmal offen…

Stellen wir in Anlehnung an zwei Denker[1] jüngster Zeit eine einfache Aussage über die Universität auf. Die Universität ist ein Ort der Bildung, der unbedingt sein muss. Warum ist die Universität ein Ort und warum sollte sie unbedingt sein?

 

I.

Was ist also ein Ort? Nehmen wir den anfangs gelegten Faden wieder auf. Denken nannten wir die Tätigkeit des Innehaltens und des Sprechens aus tausend Zungen. Diese zwei Eigenschaften scheinen zwangsweise eine Sache der Einsamkeit zu sein. Die Einsamkeit zeigt sich dabei als eine eigentümliche Pluralität überhaupt. In einem Zwiegespräch mit sich selbst muss der Mensch sich als plurales Wesen begreifen. Das Denken ist ein Gespräch mit sich selbst, ständig wägt er Positionen ab und ist nirgendwo so unbestimmt wie als Einzelner.

Als Einzelner und Bestimmter ist der Mensch eigentlich in der Pluralität. Dort, wo die Öffentlichkeit ist, wo der Offene also zu Offenen kommt, wo die anderen sind, ist er, der Mensch, ein jemand, muss sich bestimmen und aus all den Stimmen in sich eine herauslassen. Identität ist deswegen ein Konstrukt, das zugleich aus der Pflicht entspringt, ansprechbar zu werden und für andere zu sein, qua der Mensch ein sprechendes Wesen ist. Diese Öffentlichkeit will ich nun Ort nennen.

Der Ort hat eine eigentümliche Wirkung auf den Menschen. Nur ein Ort ermöglicht es dem Menschen ein Handelnder zu sein, ja eine Tat vollführen zu können.

 

II.

Als Ort des Öffentlichen ermöglicht also die Universität dem Menschen so etwas wie Bildung, in ihrem emphatischen Sinne, nicht nur deswegen, weil viele aufeinandertreffen, sondern vor allem aus der Pflicht für andere ansprechbar und bestimmbar zu werden, also sich zu bilden.

Hier zugleich kommen wir in paradoxe Verhältnisse. Was soll die Universität? Zweifellos die gesellschaftlichen Individuen auf die wachsenden, komplexen Arbeitsverhältnisse der Moderne qualifizieren. Wie wir aus vielen Betrachtungen wissen, die hier nicht näher erläutert werden müssen, ist die Arbeitswelt im Spätkapitalismus jene, die die Menschen vereinsamt, sie gleichsam ihrem Menschsein entfremdet und wortlos macht. Die Arbeitswelt bestimmt in eigentümlicher Weise, da man dort auch vor allem über seine eigens bestimmten Funktion wahrgenommen wird, gleichsam als Träger dieser Funktion. Die Universität bietet eben den Freiraum als vielleicht einzigen Ort, wo diese Freiheit zum Tragen kommen kann. Doch was anfangen mit dieser Freiheit, wie als Muslim damit umgehen?

Die Universität hat also die Aufgabe auf jenen Arbeitsmarkt hin im Sinne der Qualifizierung zu bestimmen, zugleich bietet sie eine Pluralität und Unbestimmtheit und entwickelt und erschließt eine Öffentlichkeit, wo sich Menschen begegnen können und der Mensch gebildet wird und sich bilden kann.

Die Möglichkeit dieser Bildung ist nur in einem offenen Raum, wo sich Menschen in ihrem Sprechen und angesprochen werden begegnen. Zu sein wer ich bin ist zugleich bedingt nur durch die Offenheit des Raumes, in der das Sprechen eben keine Restriktion hat.

 

III.

Weiterhin nannten wir die Universität unbedingt. Erinnern wir uns an die eingangs gestellten Fragen. Was ist die Bedingung der Möglichkeit von Universität? Und da sagt uns Derrida, dass die Universität unbedingt sei, also bedingungslos sei. Was meint eigentlich Bedingungslosigkeit und welches Ziel hat eine bedingungslose Universität? Derrida spricht von einem Wahrheitsbezug, der im freien Sprechen in der bedingungslosen Universität zu Tragen kommen soll. Die Universität soll also der Wahrheit verpflichtet sein, was auch immer das für den Einzelnen heißen mag!

Die Paradoxien verdichten sich, wenn wir die Universität in ihrer ökonomischen, wie gesellschaftlichen Funktion der Kontrolle her betrachten und zugleich ein Ideal der Wahrheit aussprechen. Was bedeutet dieser Wahrheitsbezug für den Muslim? Welchen Wert soll jede Wissenserlangung im Islam haben? Welchen Wert hat ein Wissen, wenn es uns nicht zum marifetullah führt?

Die Grillen zirpen und die Sterne sprechen eine Sprache, die ich nicht verstehe, aber eine eigentümliche Stille erfasst das Herz. Es bleiben lediglich Fragen. Was hat also der Muslim an so einem Ort verloren. Diese Frage gänzlich zu beantworten, muss den Muslimen überlassen werden, die sich in die Verwicklungen von Universität und Muslimsein eingelassen haben. Nur dort, wo es gelebt wird, wird eine Frage zwanghaft zur Antwort kommen können!

 

- Von Ibrahim Türkkan

 

[1] Gemeint sind Hannah Arendt in ihren Betrachtungen zur vitaactiva und der Thematisierung von Sprache und Raum, und Jaques Derrida mit seinem Essay „Die unbedingte Universität“.