Spiritualität im Unialltag

Als man mit dem Anliegen auf mich zugekommen ist einen Text über die „Spiritualität im Unialltag“ zu verfassen, hat es mich natürlich gefreut, dass man mich in Betracht gezogen hat über so ein wichtiges und spannendes Thema zu schreiben. Diese Vorfreude hat in mir viele (lose) Gedanken geweckt, über die ich schreiben wollte. Jedoch hatte ich Probleme dabei die Gedanken auf Papier zu bringen. Zu aller erst stellte ich mir die Frage was überhaupt Spiritualität ist. Handelt es sich hierbei um eine äußere Haltung oder eine innere? Oder gar beides? Je nachdem wie wir die Frage beantworten, eröffnet sich für uns ein Raum dieses Thema zu diskutieren und es in unseren praktischen Alltag umzusetzen.

Daher werde ich mich zunächst mit der Frage auseinandersetzen. Danach werde ich versuchen zu zeigen, dass Spiritualität nicht nur auf Taten bezogen ist, sondern oftmals auch eine innere Haltung darstellt. Hieraufhin bezogen werde ich Möglichkeiten aufzeigen, wie wir durch diese Haltung eine Spiritualität im Studium aufbauen können. Zum Schluss werde ich auf die Wichtigkeit der Belebung von besonderen und gesegneten Zeitpunkten um eine gute Balance zwischen Uni und Spiritualität zu schaffen.

 

Der ḤadīṯǦibrīl

Um der eben genannten Frage auf den Grund zu gehen, habe ich mich mit einem Ḥadīṯ auseinandergesetzt, der eine sehr zentrale Rolle in der Religion spielt und in Bezug auf die Spiritualität oftmals rezipiert wird. Ein jeder Muslim hat diesen Ḥadīṯ bestimmt schonmal gehört. Dieser Ḥadīṯ ist auch unter der BezeichnungḤadīṯǦibrīl bekannt: „ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb (r.ʿa.) überliefert: Als wir eines Tages mit dem Gesandten Allahs (ṣ.ʿa.w.) saßen, kam ein Mann auf uns zu dessen Gewand in einem heftigen weiß und dessen Haare in einem heftigen Schwarz war. Man konnte keine Spur einer Reise auf ihm sehen, jedoch kannte ihn auch keiner von uns. So saß er sich zum Propheten (ṣ.ʿa.w.) und stützte seine zwei Knie auf die zwei Knie des Propheten und legte seine zwei Handflächen auf die zwei Knie des Propheten. Er sagte: „O Muhammad erzähle mir über den Islam“, so sagte der Gesandte Allahs (ṣ.ʿa.w.): „Der Islam ist, dass man bezeugt, dass es keinen anderen Gott außer Allah gibt und dass Muḥammad der Gesandte Allahs ist, das Gebet zu verrichten, die Zakāh zu geben, im Monat Ramaḍān zu fasten und einmal die Ḥaǧǧ zu machen, wenn es einem möglich ist.“ Er sagte: „Du hast richtig gesprochen.“ Wir wunderten uns, denn er fragte und bestätigte ihn zugleich. Er sagt: „Dann erzähle mir über den Īmān.“ Er sagte: „An Allah, seine Engel, seine Bücher, seine Gesandten, an den letzten Tag und an die Vorherbestimmung sei es das Gute oder das Schlechte von ihm zu glauben.“ Er sagte: „Du hast richtig gesprochen.“ Und führt fort: „So erzähle mir über den Iḥsān.“ Er sagte: „Allah so zu dienen als ob du ihn siehst, selbst wenn du ihn nicht siehst so sieht er dich.“ (…) Danach ging er fort und ich verharrte für eine lange Zeit. Danach sagte der Prophet (ṣ.ʿa.w.) zu mir: O ʿUmar, weißt du wer der Reisende war?“ Ich sagte: „Allah und sein Gesandter wissen es.“ Er sagte: „Wahrlich er war Ǧibrīl, er kam zu euch um euch eure Religion zu lehren.“[1]

Aus dem Ḥadīṯ sind drei Dimensionen der Religion zu entnehmen. Die Dimension des Glaubens (Īmān), die Dimension der gottesdienstlichen Handlungen/ʿIbadāt (Islām) und die Dimension der Spiritualität (Iḥsān). Die letztere Dimension ist wie wir aus der Überlieferung heraushören können eine Bewusstseins- und Geisteshaltung. Wenn wir von einer Spiritualität im universellen Alltag sprechen, kommen wir jedoch nicht daran vorbei das eine innere Haltung auch zwangsläufig eine Auswirkung, die äußerlich sichtbar ist. Daher wäre es meiner Meinung nach passender, insbesondere für dieses Thema, die Spiritualität als eine zwei-seitige Münze zu verstehen. Auf der einen Seite haben wir Taten, die ein äußerer Ausdruck der Spiritualität ist und auf der anderen Seite eine Bewusstseinshaltung, die ein Ausdruck der inneren Dimension der Spiritualität ist. Zurückgehend auf den Ḥadīṯ wäre es treffend zusagend, dass der Islām die äußere Spiritualität darstellt und der Iḥsān die innere Spiritualität.  Der Begriff des Iḥsān bedeutet sprachlich „eine Sache gut, schön, richtig zu tun“ oder aber „eine gute und nützliche Tat zu machen“.[2]Im Koran und in den Ḥadīṯen soll es aber eher im Sinne von „nützlicher Tat“ verwendet werden.[3]

Die Taten enstprechen ihren Absichten

Ein großes Missverständnis in unserer Zeit ist, dass wir ʿibādāt häufig als ausschließlich äußerlich sichtbare Taten sehen. Wie zum Beispiel das Ritualgebet, das Fasten oder die Ḥaǧǧ. Daher verstehen wir unsere Taten als Parameter unserer Spiritualität und Religiosität. Das heißt wir fühlen uns schlecht, dass wir auf Grund unseres Studiums keine freiwilligen Gebete oder freiwilliges Fasten vollziehen, sei es aus zeitlichen Gründen oder im Falle des Fastens aus Angst, dass unsere Produktivität darunter leidet. Man sollte mich hier nicht falsch verstehen, denn das tägliche Ritualgebet oder das Fasten im Ramaḍān sind Pflicht und essentieller Bestandteil der Religion, jedoch gibt es auch ʿIbādāt die innerlich zu machen sind. Einer dieser ist die Niyya (Absicht), welcher einen immensen Einfluss auf all unsere gottesdienstlichen Handlungen hat. Natürlich studieren wir ein Studienfach, die in unserem Interessenfeld liegt und von dem wir uns bei Abschluss eine finanziell gute Perspektive erhoffen, aber allein dies sollte für einen Muslim nicht die Motivation sein. Vielmehr sollte unsere Niyya sein unser Studium für das Wohlgefallen Allahs zu machen. In einem Ḥadīṯ heißt es „Vielmehr sind die Taten gemäß ihren Absichten. Für einen jeden Menschen gibt es, dass wofür er seine Absicht getroffen hat (…).“[4] Mit dem Wort Taten (Aʿmāl) sind hier die Bewegungen, das Verhalten, die Aussagen und die Taten des menschlichen Körpers gemeint. Al-Samʿānī soll gesagt haben „Wenn jemand eine erlaubte Tat tut und damit die Nähe zu Allah beabsichtigt hat, zum Beispiel um durch die Zunahme von Nahrung in seiner Dienerschaft und im Gehorsam zu ihm Kraft zu finden, so wird er dafür belohnt“.[5] Das heißt jede noch so banale Tat kann mit der richtigen Absicht zu einem Akt der Spiritualität werden. Das wir uns morgens auf dem Weg zur Uni begeben, das wir uns mit dem Stoff der Veranstaltungen auseinandersetzten oder aber das wir Nahrung zu uns aufnehmen damit unsere geistige Produktivität gesteigert wird, all dies wäre durch eine aufrichtige innere Bewusstseinshaltung eine ʿIbādah. Durch unsere innere Intention können wir also während unseres ganzen Studiums in einem dauerhaften Zustand der ʿIbādah sein.

Das Streben nach Wissen als Akt der Spiritualität

Wissen und das Streben nach Wissen sind essentielle Bestandteile des Islams. Ohne Wissen ist es uns nicht möglich einen fundierten und standhaften Glauben zu haben und unsere gottesdienstlichen Handlungen mit ihren inneren und äußeren Aspekten auszuführen. Aus diesem Grund soll der Prophet gesagt haben, „Das Streben nach Wissen ist Pflicht (Farḍ) für jeden Muslim und jede Muslima“. Einige Gelehrte sollen über diese Überlieferung gesagt haben, dass dies auch das Wissen einschließt welche Einnahmen erlaubt und welche verboten sind.[6]Abū al-Dardāʾ (r.ʿa.) soll sogar gesagt haben „Wer es nicht als Ǧihād ansieht in der Früh aufzustehen und Wissen zu suchen, der hat Mängel in seinem Verstand und seiner Vernunft.“[7] Wie auch schon vorher erwähnt, erhoffen wir uns mit dem Studium natürlicherweise auch zukünftig finanziellen Vorteil. Dies ist auch überhaupt nicht verwerflich, denn wir haben täglichen Ausgaben für uns selbst und unsere Familien, wir haben Mitmenschen, die wir finanziell unterstützen und versorgen müssen. In einem Ḥadīṯ heißt es hier zu „Wer sich hütet zu betteln und arbeitet um sein tägliches Brot zu verdienen, der gelangt zu der Stufe der Šuhadā“.[8]Und eben durch unser Studium erlernen wir das „Handwerk“ um unser tägliches Brot zu verdienen. Die Vorteile, die sich dadurch ergeben oder ergeben sollte wenn man sich ernsthaft mit seinem Studium auseinandersetzt ist, dass der Mensch Abstand nimmt von Spiel/Spaß und Faulheit. Er bändigt seinen Nafs und erzieht ihn. Und vielleicht einer der größten Vorteile ist, dass man vorbeugt finanziell von anderen abhängig zu sein.[9] Doch trotz all dem weiß der Muslim, dass das Studium und die Beschäftigung der wir danach nachgehen werden keinen Einfluss auf denRizq (Unterhalt) hat, denn Allah ist derjenige allein der den Geschöpfen Unterhalt gibt. Das Arbeiten oder Erwerben dient nur als Ursache (Sabāb) dafür, dass der Unterhalt kommt.

Duʿā als eine permanente Verbindung zu Allah

Das Bittgebet ist einer der besten Möglichkeiten für die Studierenden eine dauerhafte Verbindung mit ihrem Herrn aufzubauen. Um die Wichtigkeit des Bittgebets zu begreifen, reicht es eine Lektüre der Kapitel „Daʿawāt“ (Pl. Von Duʿā) in den Ḥadīṯbüchern zu vollziehen. Einige Gelehrte haben sogar nur zu diesem Zweck einzelne Werke verfasst.  AbūHurayra (r.ʿa.) berichtet vom Propheten (ṣ.ʿa.w.), dass Allah gesagt haben soll, „Ich bin in der Annahme meines Dieners über mich und ich bin mit ihm wenn ein Bittgebet an mich richtet.“[10] Und des Weiteren soll der Prophet gesagt haben, „Das Bittgebet ist die (zentrale) ʿIbādah“ und soll daraufhin den Vers „Und euer Herr sagte: „richtet eure Bittgebet an mich, damit ich sie euch erwidere“ (Sura al-Muʾmin, Vers 60) [11]rezitiert haben. Anhand dieser Belege sehen wir, dass das Bittgebet die Quintessenz der ʿIbādah darstellt und eine große Hilfe ist um eine dauerhaft intakte Beziehung mit Allah aufzubauen. Dabei machen wir Duʿā nicht nur für Dinge, die uns Probleme zubereiten oder wenn uns ein Unheil getroffen hat, sondern auch dafür, dass diese Sachen uns in Zukunft nicht wiederfahren. Aber der Rahmen des Bittgebets ist viel größer als das. Es gibt für jede unserer Lebenssituationen spezielle Gebete, wie dafür um auf der Rechtleitung zu bleiben, für die rituelle Reinigung, beim Gebet, bei der Abgabe der Zakāh, für das Streben nach Wissen, für das Verlassen des Hauses, für Reisen und viele mehr. All dies ist ein Ausdruck dafür, dass Allah uns zu jedem Zeitpunkt mitseiner Barmherzigkeit und seiner Fürsorge begleitet.

Das Nutzen von besonderen Tagen und Zeitpunkten

Die Frage, die sich nach diesen Ausführungen hier stellt ist, ob wir denn überhaupt keine freiwilligen Gottesdienste verrichten sollen. Diese Frage sollte ein jeder individuell für sich selbst beantworten. Aus meiner persönlichen Erfahrung sei gesagt, dass man bei guter Planung sowohl sein Studium voranbringen kann, als auch genügend Zeit für seine Gottesdienste hat. Das Wichtigste ist, dass man sich sehr früh mit dem Stoff des Studiums auseinandersetzt und nicht erst kurz vor Beginn der Prüfungsphase. Dies hilft zweierlei: Zum einen hat man damit eine optimale Vorbereitung für die Prüfungen getroffen und zum anderen hat man in der Prüfungsphase ausreichend Freiraum für das Lesen des Korans, das Verrichten der Gebete oder aber auch Ḏikr. Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser ganze „Stress“ sich positiv auf unsere Spiritualität auswirken kann. Ein jeder Student kennt die Phase wo er nach der Prüfungsphase ein oder zwei Monate frei hat und sich nicht mit etwas beschäftigt. Diese Zeit wirkt sich oft negativ auf unser alltägliches Leben aus. Wir werden faul, vernachlässigen unsere privaten Angelegenheiten, Familie, Freunde und begnügen uns nur mit dem Farḍ Gebet und unterlassen die Sunna Gebete, obwohl wir doch eigentlich viel mehr Zeit für diese Sachen haben sollten.

Wenn es jemanden nicht gelingt täglich etwas Zeit für die spirituelle Ebene zu nehmen, der kann sich einen bestimmten Tag in der Woche aussuchen an dem er sich Gottesdiensten widmet. Dabei eignet sich vor allem die segensreiche Nacht und der Tag des Freitags. Generell sollten besondere Tage und Zeitpunkte wie die Nacht des Barāʿah und der Laylat al-Qadr, der Tag von ʿAšūra, die ersten 10 Tage des Monats Ḏū al-Hiǧgah genutzt werden um eine Balance mit dem Studium zu schaffen.

 

– Von Harun Üfrük

 

[1]Buḫārī, Īmān 37
[2] EL-HÜSEYNI, Muhammed Mübarek: Ehl-iTasavvuf S.53
[3]Ebd. S.53
[4]Riyaz al-SalihinHadit Nr.1
[5]ÖZKES, Ihsan: Riyaz’üs-SalihinTercümeveSerhi, S.65
[6]EL-GÖRELEVÎ, İbrahim Hilmi bin Hüseyn:Sevâdü’l-Azam Serhi – Selâmü’l-Ahkâm,S.267
[7] Imam Gazzâlî:IhyâuUlûmi’d-dîn (Muhtasar), S.30
[8]EL-GÖRELEVÎ, İbrahim Hilmi bin Hüseyn:Sevâdü’l-Azam Serhi – Selâmü’l-Ahkâm, S.267
[9]Ebd., S.268
[10]EL-ASKALÂNÎ, İbn Hacer: MuhtasarTerğibveTerhib, Ḥadīṯ Nr.559
[11]Ebd., Ḥadīṯ Nr.560

Selbstzweifel

„Meinst du, ich maße mir wirklich an, das Rechte zu wissen?
  Nein, ich vertraue nur, was man so redlich tut, um das man so bitter sich quält, das kann vor
  Gott und den Menschen nicht ganz ohne Sinn und Wert sein.“



 

-Tolstoi zu seiner Frau Sofja, in Stefan Zweigs erdachtem Epilog zu Tolstois „Und das Licht scheinet in der Finsternis“

 

Diese fiktiven Worte geben Auskunft über die tatsächliche, ideelle Diskrepanz eines literarischen Genies zwischen seinem Denken, seiner Träume und Utopien in Bezug auf die Selbstfindung in der Welt einerseits und seines zwanghaften, alltäglichen Lebens andererseits. Als ein privilegiertes Grafenkind erblickte Tolstoi das Licht der Welt und durfte deswegen die, für viele der damaligen Menschen luxuriöse, Frage nach dem Sinn seiner Existenz stellen. Allein um dieser Frage Rechnung zu tragen, warf er sich immer wieder in unterschiedliche Bereiche des Lebens. Sein Leben scheint eine nie endende Aktivität gewesen zu sein, die der Auffindung eben jenes Sinns gewidmet war. Zunächst das Studium der Orientalistik, dann der Dienst in der Armee, die reformpädagogischen Bemühungen rundum das „Reich der Kinder“, die Schriftstellerei und so weiter. Je tiefer er allerdings in die Gefilde des Ideellen eindrang, umso mehr schien er sich seines persönlichen Lebens zu entfremden. Der Kampf für die Leidtragenden seiner Gesellschaft, den kein ein anderer literarisch in solch einem Niveau aufbereitete, kollidierte mit seinem eigenen Lebensstil. Wie so oft in der Geschichte, spielte sich auch hier ein Kollaps zwischen Theorie und Praxis ab. Erst kurz vor seinem Tod, wieder einmal nach einem Streit mit seiner Ehefrau Sofja, konnte er den Entschluss fassen, alles aufzugeben und als einer derer, für deren Rechte er Jahrzehnte lang geschrieben hatte zu sterben. Ganz knapp also, erreichte dieser Mann vielleicht das, was wir heute „Selbstfindung“ nennen.

 

Heute, in unserem Kontext, also dem Deutschland des 21. Jahrhunderts, ist die Frage nach dem Sinn, zumindest potenziell, keine Luxusfrage mehr. Jeder von uns erreicht einmal den Punkt, an dem er sich fragt, was das Ganze denn eigentlich soll und welche Rolle er dabei einnimmt. Zudem wissen wir spätestens seit Bourdieu, dass die Frage nach dem Selbst unvermeidlich mit den sozialen Strukturen verbunden ist, denen wir teils ausgesetzt sind und die wir teils – vermeintlich – selbst aufsuchen. Haben nicht viele nur deshalb Rock oder Punk gehört, um eine Gemeinsamkeit mit dem Schwarm zu haben? Fußball gespielt, weil alle anderen Kinder in der Nachbarschaft es auch gespielt haben? Rap-Rhymes auswendig gelernt, um damit vor anderen zu prahlen? Oder auch Glaubensstätte besucht, weil es die Eltern vorgemacht haben? Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Die Frage, die sich hierbei stellt, ist, wie viel, von dem wir meinen, es seien wir, spiegelt unser tatsächliches Selbst wider?

An diesem Punkt bietet es sich an, die bisher überaus allgemein beschriebene Problematik auf eine ganz bestimmte Phase des Lebens zu spezifizieren. Die Rede ist von der Zeit, in der viele von uns vielleicht das erste Mal ihre vertraute Umgebung verlassen und sich auf ein ganz neues Abenteuer in ihrem Leben einlassen: Das Studium. Gerade wir, als deutsche Muslime mit unseren variablen nationalen Hintergründen sind ohnehin – auch ohne den Lebensabschnitt Studium – tagtäglich mit identitären, inneren Konflikten beladen, die uns unser Leben erschweren. Am meisten noch trifft diese Tatsache aber auf die junge Generation studierender Muslime zu. Seien wir mal ehrlich, wie viele von uns haben vor ihrer Studienzeit solch eine Fülle von ideellen, kulturellen und noch vielen weiteren Diskrepanzen erlebt? Haben nicht die meisten von uns sich vor allem in jener Lebensphase gefragt, wer sie, vor dem Hintergrund der schier unendlichen Meinungen, Weltanschauungen oder auch Lifestyles sind? Sind wir beispielsweise nun deutsch oder arabisch, türkisch, kurdisch und was auch immer? Oder doch beides? Geht das überhaupt? Sind wir Muslime- wenn ja, warum? Was ist der Unterschied zwischen Glauben und Wissen? Wissen wir, woran wir glauben – glauben wir an das, was wir zu wissen meinen?

Fragen über Fragen, die den einen oder anderen an seine Grenzen bringen. Zu immer weiter ausartenden Lektüren treiben, nervös machen, ja, den Schlaf rauben. Andere wiederum stellen sich diese Fragen erst gar nicht und geraten ganz selbstverständlich in den Sog facettenreicher, kultureller Einflüsse. So sind wir nun einmal. Ganz unterschiedliche Menschen. Doch eines eint uns, junge, deutsche Muslime, alle: Die Tatsache, dass die Studienzeit etwas mit uns macht. Dieser Zustand ist Fluch und Segen zugleich.

Wenn wir uns dessen bewusst sind, dann können wir vielleicht, aber auch nur vielleicht, ganz bewusst auf diese Veränderung einwirken. Wir können z.B. das Gespräch zu inspirierenden Menschen häufiger aufsuchen oder unterschiedliche Bücher von der Lehre der Seele Platons über die metaphysischen Abhandlungen eines Fakhr ad-Din ar-Razi bis hin zur Psychoanalyse Freuds lesen, uns diverse Meinungen zu diversen existenziellen Fragen einholen und den gewagten Versuch unternehmen, die Inhalte dieser zu verdauen. Alles, um am Ende eines jeden Tages uns selber die alles entscheidende Frage zu stellen: Wer bin ich? Ich, der all dies hört, all jenes liest und sieht?

Sich diese Fragen überhaupt bewusst zu stellen ist ein wichtiger Meilenstein auf unserer Reise. Wenn wir ganz bewusst den Prozess der Selbsterkundung initiieren, werden wir früher oder später auch unweigerlich auf historische Figuren stoßen, die durch dasselbe Leid geprägt waren und deren Geschichten uns auf unserer persönlichen Reise inspirieren werden. Ist die Frage nach dem Selbst nicht der Grund dafür, dass beispielsweise der große Abu Hamid al-Ghazali gar krank wurde und erst durch ein Jahrzehnt der Askese wieder zu sich, also zu seinem Herrn fand? Warum der spirituelle Meister und Universalpoet Jalal ad-Din ar-Rumi seine Unterrichte vernachlässigte, sich in sein Kämmerlein einschloss, um in dem Spiegel der Personifikation Des Geliebten sich selbst zu betrachten? Oder warum auch Tolstoi sich in hohem Alter auf Reisen begab, um zumindest nicht in einem Zustand der Selbstignoranz zu sterben?

Diese unterschiedlichen Menschen verband vor allem ihre gemeinsame Sehnsucht nach sich Selbst. Auch wir können uns in die Kette der Suchenden eingliedern, insofern wir die Pein akzeptieren, stets zu suchen, aber nie Gewissheit über das Gefundene zu erlangen. So aufregend also die Frage nach dem Selbst auch ist, umso ernüchternder muss eine endgültige Antwort darauf ausfallen: Wir können es nie wirklich wissen. Nie Gewissheit über das erlangen, wonach wir uns sehnen und die alten Athener sich schon sehnten.

Doch obgleich wir nie die Gewissheit erlangen, nähern wir uns doch ganz unscheinbar dem Ziele unseres epistemologischen Pfades insofern, als dass jeder einzelne Schritt auf jenem Pfad etwas mit uns macht. Uns verändert. Transformiert. Wir erkennen also, indem wir werden und wir werden, indem wir uns an das herantasten, wovon wir ausgehen, es sei die Gewissheit. Das also, was einzig und allein bleibt, ist die nie endende Bemühung, das Ringen um diese so wertvolle Selbsterkundung.

Wir also, als muslimische Studierende, müssen der Vielfalt offen entgegentreten und uns in dieser und durch diese einen Weg zu uns selbst bahnen. Denn all dies, um wieder auf das zu Beginn angeführte Zitat zurückzukommen, kann fürwahr nicht ganz ohne Sinn und Wert sein.

 

- Von Hakan Erdem

Buchrezensionen

Das Café am Rande der Welt – John Streckely

Ein Café am Rande der Welt. Ein Café außerhalb der Stadt. Von außen: bedeutungslos und leer.

Es ist aber nicht nur ein einfaches Café.

Es ist der Ort, an dem sich Johns Lebenseinstellung um 180° gewendet hat.

Der Ort, an dem Johns Reise begann. Die Reise der Entdeckung nach sich selbst.

Nach einem ungeplanten Halt an einem Café inmitten des Nichts, stellt John sich drei Fragen gegenüber.

Diese drei Fragen führen zu einem riesigen Wendepunkt hinsichtlich seiner Einstellung gegenüber dem Sinn des Lebens.

Aber wie kann ein Café der Grund zur Selbstfindung sein?

Wie können drei Fragen den Sinn des Lebens deutlich machen?

Und vor allem welche drei Fragen waren es, die letztendlich dazu geführt haben?

Findet es heraus!

 

Paulo Coelho – Der Alchimist

Träume sind dazu da, diese zu Verwirklichen.

Egal, welche und wie viele Hürden überwindet werden müssen, egal wie weit der Traum sein mag.

Wenn du vom Herzen daran glaubst, kannst du es schaffen.

Auf der Reise nach seinem Traum stoßt Santiago gegen viele Hindernisse und lernt neue Leute kennen. Doch diese Hindernisse waren keine Blockade für Santiago, sondern viel mehr eine Hilfe zur Verwirklichung seiner Träume, da er dadurch dazulernte und seinem Traum immer ein Stück näherkam.

Sowie der Alchimist das Blei zu Gold verwandelt, verwandelt Santiago seine Träume in Realität.

Aber nicht das Erreichen der Träume ist wichtig. Viel wichtiger ist der Wille, Träume zu erfüllen, gleichwie die Reise endet.

Denn der Weg ist das Ziel!

Ein Buch mit so vielen Lektionen.

Ein Buch, bei dem man jedes Mal etwas dazu lernt.

 

Dürrenmatt – Die Physiker 

 

Eine Literatur, die man wahrscheinlich aus dem Deutschunterricht kennt.

Kein Grund zum Abschrecken, denn es ist womöglich die beste Literatur, die man im Unterricht lesen darf. Eine Lektüre, die zum Ende erst einen Sinn ergibt -oder auch erst beim zweiten Mal Lesen.

Joseph Eisler alias Einstein, Alec Jasper Kilton alias Newton und Möbius – drei Physiker, gefangen in einer Irrenanstalt ermordeten ihre jeweiligen Pflegerinnen. Wissenschaftler Möbius versucht nebenbei seine Weltformel zu retten.

Dürrenmatt spielt hierbei mit unserem Unterbewusstsein und greift auf eine Weltproblematik auf, die er kritisiert. Aufgrund seiner erzählerischen Finesse fällt es dem Leser schwierig zwischen Wahrheit und Täuschung zu unterscheiden. Eine Komödie, die den Denkprozess anregt und dem Leser eine Spannung verleiht, bei der man nicht aufhören kann, weiterzulesen.

Vielmehr sollte nicht erzählt werden, denn sonst vergeht das AHA- Erlebnis.

 

Erich Fromm – Haben oder Sein

Haben oder Sein, das ist hier die Frage -würde Shakespeare wahrscheinlich jetzt sagen.

Zwei gewöhnliche Begriffe, aus einer völlig anderen Perspektive. Nicht ohne Grund ist das einer der bekanntesten Werke Fromms. Ein so komplexes Thema, welches Fromm durch Beispiele und Einblicke in den verschiedensten Themenbereichen plausibilisiert. Fromms Gesellschaftskritik wird in diesem Werk deutlich.

Seit dem Zeitalter der Postmoderne leben wir in einer von Individualisierung geprägten Gesellschaft. Bis heute hat sich nicht sonderlich viel geändert.

Der Mensch sieht sich nicht mehr als das, was er ist, sondern als das, was er besitzt. Aber ist man, weil man hat?

Gefühle, Gedanken, Emotionen werden zu einem Eigentum, zu einem Besitz verwandelt. Wir sind nicht mehr, wir haben nur noch und manchmal scheinen wir auch nur als wir wirklich sind.

Eines der „booksforlife“, worauf man immer wieder zurückgreifen kann.

 

- Von Talia Yildiz

Achtsamkeit und Tafakkur –   Zeitreisen begeht man mit dem Geist, Technik und Medien werden zum Schwergepäck

Mir wird nun die Freude zu Teil, meine LeserInnen mit in eine Zeitreise zu nehmen. Und zwar von einem Punkt der Erde aus, der mein Ursprung bedeutet und der mich auch immer wieder zum Ursprung meiner inneren Kräfte führt. Ich sitze auf dem Balkon mit dem Ausblick auf den Uralten Minarett unseres Dorfes in Konya Beyşehir-Yenidoğan.

Wenn ich das Glück habe einige Tage im Sommer in dem Dorf meiner Urahnen zu verbringen, dann fühlt es sich wie ein digitaler Detox an. In meiner Jugend lernte ich wohl oder übel, mich weniger um Steckdosen zu streiten und Stromausfälle und schlechten Internetempfang hinzunehmen. Hier sind Dinge, die für uns im digitalen Zeitalter normal sind, plötzlich unnormal, es fühlt sich wie eine Reise in die Vergangenheit an.

Die ersten Tage lassen uns die unfassbare Abhängigkeit durch Medien spüren. Als angehende Psychotherapeutin möchte ich fast schon von Entzugserscheinungen sprechen (diese sind bemerkbar durch Gereiztheit, innere Getriebenheit und dem wiederkehrenden Wunsch mit dem Wisch/Drück-Daumen am Smartphonebildschirm eine Netzverbindung herzustellen.

Ich komme aber trotzdem immer wieder gerne hier hin, denn je länger man hier verweilt, passieren sonderbare Dinge:

 

Die Echosfrüherer Jahrhunderte erklingen,

wenn die Pappeln am Gewässer rascheln,

die Spatzen aufgeregt plaudern und die Gräser tuscheln.

Fühlt die Ameisen im Konvoi marschieren,

hört die Heuschrecken ein Lied komponieren,

Riecht die Erde nach dem Regen

und schmeckt den Wind, sie sind ein Segen,

der mit den Bäumen nickend grüßt;

die Luft hier ist tatsächlich süß.

Auf dass sie weitere Jahrhunderte verbringen.

 

Der alte knorrige Wallnussbaum vor unserem Haus, der viele Erdziegel zählt,

gibt mir die Brust für meinen Großvater, der mir hier jetzt schmerzlich fehlt.

Schaut man auf dem Balkonauf dem „Minder“ (Kissen) liegend in den Nachthimmel,

dann schwebt man förmlich zwischen aber Millionen Sternen in der tiefdunklen Nacht.

Es flößt Respekt und Ehrfurcht aus, man fragt sich, wer die Wage der Natur bewacht.

Raum klingt endlich, hier ist Unendlichkeit für sinnige und unsinnige Gedanken und Theorien.

Die Gedanken sind alle frei, neue Kombinationen sind erlaubt, man darf flieh‘n.

In einem der Tausend Spaziergänge durch die Sternenwolkengedanken

findet man doch einen bewohnbaren Planetengedanken, der sich bereisen lässt.

Der Mensch sollte stets in jede Perspektive schauen, ehe er die Welt bereist und verlässt.

 

Als ich den hellsten Stern sehe, geht mir ein Licht auf.

Haben eigentlich Achtsamkeit und Tafakkur etwas gemeinsam?

 

Die Achtsamkeit ist eine besondere Form bewusster Geisteshaltung, die über die einfache Aufmerksamkeit hinaus geht. Diese Qualität des menschlichen Bewusstseinszustands befähigt zu einer unvoreingenommenen Haltung gegenüber den Sinnesreizen, sie klar wahrzunehmen und mit den inneren und äußeren Erfahrungen im Alltag vorurteilsfrei zu vereinen.

Die Geisteshaltung der Achtsamkeit hat ihre Wurzeln in der buddistischen Lehre.

Tafakkur ist eine Technik der islamischen Spiritualität über das Nachsinnen über die Schöpfung.

Mit dieser Ergänzung kommt eine metaphysische und spirituelle Dimension hinzu, die ich zudem noch als Upgrade der Wahrnehmung und der Bewusstseinsqualität bezeichnen möchte. Diese Haltung erkennt hinter den Vorhängen der gesamten Naturbühne einen grandios-kreativen Schöpfer, Meister und Lehrer, der mit allergrößter Fürsorge und Liebe seine Wunder für seine Geschöpfe bereitstellt. Die häufigste Frage im Buch aller Bücher zählt: „Denken sie nicht?“

Das alles wäre mit Luft, Lärm und -JA!- auch Lichtverschmutzung nicht möglich. Das alles wäre nicht möglich, wenn mich ein Bildschirm in seinen Bann ziehen würde. Ärzte Prognostizieren für die Zukunft mehr Nackenbeschwerden. Aber nicht, weil sie zu sehr zu den Sternen hinaufschauen, sondern übermäßig viel nach unten auf ihre Smartphones schauen. Wir sollten mehr nach links und rechts schauen. Die Blume wahrnehmen, die sich durch den Asphalt sprengt. Die Kinder wahrnehmen, die sich in einer ausgrenzenden Gesellschaft hocharbeiten, oder dabei einknicken. Wir sollten viele Sternschnuppen erhaschen und mit eben diesem geübten Geist Chancen auf der Erde erhaschen, für unsere Zukunft und Zivilisation.

Solange wir die Natur achtsam wahren, wahren wir uns selbst. Solange wir die Natur mit Achtsamkeit spüren, spüren wir uns und erkennen unseren Schöpfer, der seine größten Zeichen in der Natur beherbergt. Das Geschenk Gottes, die „Wiege des Menschen“ -die Natur- nähert sich dem menschlichen Geschöpf sowohl auf intellektueller Ebene als auch auf emotionaler Ebene mit Fürsorge. Sie lehrt uns viele Unterrichtsstunden mit Technikvorlagen, scheut nicht davor zurück „die Mücke“ im Koran als Beispiel zu benennen; schenkt aber auch Trost.

„Man sieht nurmit demHerzen gut. Das Wesentlicheist fürdie Augen unsichtbar.“ (ASE)

Sagt ein Autor, der auch seine Figur in den Weltraum schickt. Es scheint ein Fluchtweg zu sein, für Menschen, die sich schwer tun die Erde und Erdlinge zu verstehen.

Wir sind dabei das Wesentliche aus den Augen zu verlieren. Wir lassen uns durch unwesentliche Dinge leicht in den Bann ziehen. Stundenlang können wir uns auf einen Bildschirm fixieren. Dann sagen wir auch noch „die Zeit ist verflogen“. Wir sollten sagen „Unsere Lebenszeit ist verflogen“. Die Zeit – das Einzige was Menschen durch nichts-tun zum Fliegen bringen können. Die meisten Gedanken haben jedoch gestutzte Flügel. Der Adler glaubt, dass er eine Henne sei, undim Gehege mit einem vorgegebenen Tagesrhythmus ebenso viele Eier legen müsse. Ist aber trübselig, weil sie kaum so viele Eier schafft und seine Flügel als zu breit und hässlich empfindet.

Durch Achtsamkeit und Tafakkur trainieren wir unseren Geist, Dinge wahrzunehmen, die wesentlich sind. Wir trainieren die Verbindung zwischen Natur und Mensch. Ein gesunder Körper braucht Training. Ein gesunder Geist und Intellekt brauchen ebenso regelmäßig Training. Also heben wir unsere Köpfe und schauen wir auch auf die kleinen Dinge. Dann erkennen wir, wie groß sie eigentlich sind und wie klein unsere Vorstellungskraft über sie war.

Denn nichts ist so wie es von außen aussah.

- Von Hüda Sag

Minimalismus und Islam: „Wie viel weniger ist genug?“

Freiheit durch Verzicht? Glück durch Entsagung? Ein neuer Lebensstil erwächst. Nach gesunder Ernährung, Sport und Hipster-Lifestyle wird nun Minimalismus groß geschrieben. Die Sehnsucht nach dem einfachen Leben. Was sich in den Ohren vieler Leute komplett selbstquälerisch anhören dürfte, ist für eine wachsende Zahl von Menschen ganz normaler Alltag. Manch einer beschränkt seine Besitztümer auf 100 Dinge, für einen anderen bedeutet es, ganz konsequent nur das zu machen, was ihm Freude bringt.

 

Minimalismus heißt, unnötigen Ballast abzuwerfen. Wie überflüssige Gegenstände, eingerostete Freundschaften und Tätigkeiten, die keinem wichtigem Ziel dienen. Mit Verzicht, Entbehrung und Askese hat es nichts zu tun. Wer minimalistisch lebt, soll keine Zeit, kein Geld und keine Energie verschwenden.

 

Bekanntlich ist jedoch, dass neu auftretende Trends gar nicht mal so neu sind. In vielen Kulturen und Religionen ist der minimalistische Lebensstil fest verankert. Die Vorstellung, dass ein einfaches, bedürfnisloses Leben mehr Zufriedenheit, Tiefe, Intensität und mehr „Wahrheit“ birgt, ist Jahrtausende alt. Im Islam und auch in allen anderen Religionen zählt nicht der weltliche Besitz, sondern die Vorbereitung auf das Leben im Jenseits. Denn, alles was wir letztlich nach unserem ableben mitnehmen werden, sind einzig und allein unsere Taten.

 

Ich sortiere mein Leben und nehme mit…

Um minimalistisch zu Leben, gilt es, Besitztümer, Tätigkeiten und soziale Beziehungen zu reduzieren, bis übrig bleibt, was bedeutsam ist und Freude bereitet. Dinge, die nicht benutzt werden und kein Vergnügung bringen, verschwinden. Tätigkeiten, die nicht helfen, ein wichtiges Ziel zu erreichen, gibt man auf. Dasselbe gilt für soziale Kontakte und Freundschaften. Zuerst wird der Kleiderschrank entrümpelt, anschließend die gesamte Wohnung und zu guter Letzt, die schweren Fälle, wie Beziehungen oder der Job.

 

Der Propheten Mohammad (s) war ein Meister des Minimalismus. Schauen wir uns seine Geschichte an, so sehen wir, dass er ein sehr einfaches und minimalistisches Leben führte. Alles Weltliche was er besaß, war nur ein Mittel zum Zweck, der Weg zum Schöpfer. Der Prophet Mohammad (s) erinnert daran, dass der Reichtum nicht der Menge an materiellem Besitz einer Person entspricht. Wahrer Reichtum ist, wenn man mit dem, was man besitzt, zufrieden ist und dies dann dazu verwendet, ewig anhaltenden Lohn im Jenseits zu erhalten.

 

Geld ist wichtig, ohne Frage! Jedoch gilt auch hier der Besitz in maßen. Der Prophet Mohammad (s) empfiehlt das Geld in drei Arten zu verwenden. Erstens für Nahrung, die wir essen. Zweitens die Kleidung, die wir tragen. Drittens das Geld, das im Namen Gottes gespendet wird, und dies ist der einzige Teil, dessen Nutzen bleibt und auf uns zurückfällt. Die Zufriedenheit im Herzen ist es, die einen Menschen den wahren Reichtum erkennen und wertschätzen lässt. Auch verspricht Mohammed (s) das diejenigen, die mit ihrer eigenen Versorgung und ihrem Los im Leben zufrieden sind, die Sorge über den Reichtum und den Status anderer verlieren werden. Solche Menschen machen sich keine Sorgen darüber, wie viel Geld die anderen haben, welche Automarke sie fahren oder wie groß die Häuser sind, in denen sie wohnen. Diejenigen, die mit reinen Herzen in dieser Hinsicht Gott lieben und Ihm dankbar sind, wissen, dass die Güter dieser Welt weder Freude noch den Segen des Glaubens oder Zufriedenheit kaufen können. Im Gegenzug werden sie von Gott geliebt, sowie von ihren Mitmenschen.

 

Wer sich also als allererstes Ziel nimmt, die Zufriedenheit Gottes und die Belohnung im Jenseits zu erreichen, wird von Gott geliebt und wer vermeidet, mit anderen Menschen in weltlichen Dingen zu wetteifern, wird von den Menschen geliebt. Und dieser Reichtum – die Liebe Gottes und der Menschheit – ist weit größer als irgendwelcher Reichtum, den man mit Geld kaufen kann.

 

Aber auch das sprechen und die Wortwahl sollte laut dem Propheten minimalisiert werden. Eine Art „Mund-Minimalismus“. Denn, sobald ein Wort unser Mund verlassen hat, können wir es nicht mehr einfangen. Worte können zerstören oder aufbauen. Mund-Minimalismus bedeutet: achtsam aussprechen, was ausgesprochen werden muss oder zu schweigen. Bevor wir entscheiden, ob wir sprechen oder schweigen sollten, sollten wir hören. Auf das, was die Zunge und der Körper des Gegenübers sagen. Und auf das, was unser Gefühl verkündet.

 

Zudem spricht der Prophet Mohammad (s) von der „Gedankenreinigung“ – etwa „Gedanken-Minimalismus“. Genau wie wir unser Zuhause regelmäßig aufräumen, sollten wir dies auch immer mal wieder in unserem Kopf tun und Gedanken loslassen. Schließlich ist nicht jeder Gedanke ein Gedanke der positiv ist oder unser Wachstum fördert. Viele unserer Gedanken haben unlängst ausgedient. Denn sie halten uns klein und bremsen uns aus. Unsere Gedanken haben sehr viel Macht – viel mehr als uns häufig bewusst ist. Jedes unserer Wörter – ob Positiv oder Negativ – hat seinen Ursprung in unseren Gedanken. Auch jede unserer Handlung ist geprägt von unseren Überzeugungen und Gedanken.

 

Bedeutet es also, dass wir uns von allen weltlichen, materiellen Gegenständen trennen sollten? Nein. Weder die Religion noch minimalismus Experten stimmen dieser Aussage zu. Hier ist das Wort „Maß“ von Wichtigkeit. Rechnen wir den Überfluss und den Übermaß zusammen, dann bekommen wir als Ergebnis die Überforderung. Je weniger Überflüssiges man mit sich rumschleppt, desto klarer wird der Blick. Laut Minimalisten*innen tragen wir zu viel Ballast mit, der uns buchstäblich die Sicht verstellt. Je besser der Ausblick durch Entrümpeln wird, desto leichter erkennt man Zusammenhänge und kann Wichtiges von Unwichtigen trennen. Das soll demnach dazu führt, dass man effizienter arbeitet und Entscheidungen schneller, einfacher und richtiger fällt.

 

Minimalistisch leben – Eine Utopie?

Seien wir mal ehrlich: Brauchen wir wirklich einen neuen, mehrdeutigen Begriff für etwas, dass es schon immer gab? Das „einfache Leben“ gab es eigentlich schon immer. Vor einigen Jahrhunderten war es einfach eine Lebenssituation, in die man freiwillig oder unfreiwillig geriet. Dann kam die Industrialisierung, danach die Digitalisierung. Das Leben wurde immer bunter, lauter, vielfältiger und brachte uns neben zahlreichen Vorzügen auch Nachteile wie Stress und Reizüberflutung. Deshalb steigt der Wunsch nach Einfachheit insbesondere in den Industrieländern drastisch, denn viele Menschen sind mit der Situation überfordert.

 

Sind es nicht Zwänge und Vorgaben, die man dank minimalistischem Lebensstil loswerden möchte? Ist der Versuch möglichst viel Minimalist*in zu werden, noch Minimalismus?

Was passiert, wenn das Entrümpeln immer weiter geht und irgendwann sich alles nur darum dreht, ob drei T-Shirts eins zu viel sind. Macht es den Alltag wirklich einfacher? Minimalismus bedeutet nicht automatisch „weniger ist besser“. Strebt man nur noch danach, möglichst wenig zu besitzen, und sieht dies als perfekten Minimalismus an, hat man nichts erreicht. Denn letztendlich dreht sich wieder alles um materielle Dinge.

Dabei sollte doch das Ziel eines minimalistischen Lebensstils sein, sich vom Streben nach Perfektion und der ständigen Auseinandersetzung mit Dingen zu verabschieden.

 

Es bedeutet vor allem, selbst zu entscheiden, worin man Zeit, Energie und Geld steckt, um Ziele und Wünsche zu verwirklichen. Daher muss auch jeder für sich herausfinden, wie sein Minimalismus aussieht. Für den einen reicht ein Notebook und ein Koffer mit Klamotten für eine Woche, für den anderen ist es ein kleines Haus, gerade groß genug für seine Familie. Relevant ist nicht die tatsächliche Ausführung, sondern der Gedanke. Denn Minimalismus ist kein Ziel, sondern ein Werkzeug, ein Hilfsmittel.

 

Bevor wir uns in das minimalistische Leben hineinstürzen, müssen wir als erstes unser Bewussten minimalisieren. Unsere Gedanken und Absichten reinigen. Unser inneres ausmisten. Verstehen, sehen, selektieren und denken. Glauben wir nicht daran, dass alles weltliche vergänglich ist? Was nehmen wir nach unserem ableben mit? Was können wir verantworten? Daher sollte man sich die Frage stellen: „Besitze ich die Dinge – oder besitzen die Dinge mich“?. Oder viel eher: „Wer ist der eigentliche Besitzer“?

 

- Von Kübra Layik