Freiheit durch Verzicht? Glück durch Entsagung? Ein neuer Lebensstil erwächst. Nach gesunder Ernährung, Sport und Hipster-Lifestyle wird nun Minimalismus groß geschrieben. Die Sehnsucht nach dem einfachen Leben. Was sich in den Ohren vieler Leute komplett selbstquälerisch anhören dürfte, ist für eine wachsende Zahl von Menschen ganz normaler Alltag. Manch einer beschränkt seine Besitztümer auf 100 Dinge, für einen anderen bedeutet es, ganz konsequent nur das zu machen, was ihm Freude bringt.
Minimalismus heißt, unnötigen Ballast abzuwerfen. Wie überflüssige Gegenstände, eingerostete Freundschaften und Tätigkeiten, die keinem wichtigem Ziel dienen. Mit Verzicht, Entbehrung und Askese hat es nichts zu tun. Wer minimalistisch lebt, soll keine Zeit, kein Geld und keine Energie verschwenden.
Bekanntlich ist jedoch, dass neu auftretende Trends gar nicht mal so neu sind. In vielen Kulturen und Religionen ist der minimalistische Lebensstil fest verankert. Die Vorstellung, dass ein einfaches, bedürfnisloses Leben mehr Zufriedenheit, Tiefe, Intensität und mehr „Wahrheit“ birgt, ist Jahrtausende alt. Im Islam und auch in allen anderen Religionen zählt nicht der weltliche Besitz, sondern die Vorbereitung auf das Leben im Jenseits. Denn, alles was wir letztlich nach unserem ableben mitnehmen werden, sind einzig und allein unsere Taten.
Ich sortiere mein Leben und nehme mit…
Um minimalistisch zu Leben, gilt es, Besitztümer, Tätigkeiten und soziale Beziehungen zu reduzieren, bis übrig bleibt, was bedeutsam ist und Freude bereitet. Dinge, die nicht benutzt werden und kein Vergnügung bringen, verschwinden. Tätigkeiten, die nicht helfen, ein wichtiges Ziel zu erreichen, gibt man auf. Dasselbe gilt für soziale Kontakte und Freundschaften. Zuerst wird der Kleiderschrank entrümpelt, anschließend die gesamte Wohnung und zu guter Letzt, die schweren Fälle, wie Beziehungen oder der Job.
Der Propheten Mohammad (s) war ein Meister des Minimalismus. Schauen wir uns seine Geschichte an, so sehen wir, dass er ein sehr einfaches und minimalistisches Leben führte. Alles Weltliche was er besaß, war nur ein Mittel zum Zweck, der Weg zum Schöpfer. Der Prophet Mohammad (s) erinnert daran, dass der Reichtum nicht der Menge an materiellem Besitz einer Person entspricht. Wahrer Reichtum ist, wenn man mit dem, was man besitzt, zufrieden ist und dies dann dazu verwendet, ewig anhaltenden Lohn im Jenseits zu erhalten.
Geld ist wichtig, ohne Frage! Jedoch gilt auch hier der Besitz in maßen. Der Prophet Mohammad (s) empfiehlt das Geld in drei Arten zu verwenden. Erstens für Nahrung, die wir essen. Zweitens die Kleidung, die wir tragen. Drittens das Geld, das im Namen Gottes gespendet wird, und dies ist der einzige Teil, dessen Nutzen bleibt und auf uns zurückfällt. Die Zufriedenheit im Herzen ist es, die einen Menschen den wahren Reichtum erkennen und wertschätzen lässt. Auch verspricht Mohammed (s) das diejenigen, die mit ihrer eigenen Versorgung und ihrem Los im Leben zufrieden sind, die Sorge über den Reichtum und den Status anderer verlieren werden. Solche Menschen machen sich keine Sorgen darüber, wie viel Geld die anderen haben, welche Automarke sie fahren oder wie groß die Häuser sind, in denen sie wohnen. Diejenigen, die mit reinen Herzen in dieser Hinsicht Gott lieben und Ihm dankbar sind, wissen, dass die Güter dieser Welt weder Freude noch den Segen des Glaubens oder Zufriedenheit kaufen können. Im Gegenzug werden sie von Gott geliebt, sowie von ihren Mitmenschen.
Wer sich also als allererstes Ziel nimmt, die Zufriedenheit Gottes und die Belohnung im Jenseits zu erreichen, wird von Gott geliebt und wer vermeidet, mit anderen Menschen in weltlichen Dingen zu wetteifern, wird von den Menschen geliebt. Und dieser Reichtum – die Liebe Gottes und der Menschheit – ist weit größer als irgendwelcher Reichtum, den man mit Geld kaufen kann.
Aber auch das sprechen und die Wortwahl sollte laut dem Propheten minimalisiert werden. Eine Art „Mund-Minimalismus“. Denn, sobald ein Wort unser Mund verlassen hat, können wir es nicht mehr einfangen. Worte können zerstören oder aufbauen. Mund-Minimalismus bedeutet: achtsam aussprechen, was ausgesprochen werden muss oder zu schweigen. Bevor wir entscheiden, ob wir sprechen oder schweigen sollten, sollten wir hören. Auf das, was die Zunge und der Körper des Gegenübers sagen. Und auf das, was unser Gefühl verkündet.
Zudem spricht der Prophet Mohammad (s) von der „Gedankenreinigung“ – etwa „Gedanken-Minimalismus“. Genau wie wir unser Zuhause regelmäßig aufräumen, sollten wir dies auch immer mal wieder in unserem Kopf tun und Gedanken loslassen. Schließlich ist nicht jeder Gedanke ein Gedanke der positiv ist oder unser Wachstum fördert. Viele unserer Gedanken haben unlängst ausgedient. Denn sie halten uns klein und bremsen uns aus. Unsere Gedanken haben sehr viel Macht – viel mehr als uns häufig bewusst ist. Jedes unserer Wörter – ob Positiv oder Negativ – hat seinen Ursprung in unseren Gedanken. Auch jede unserer Handlung ist geprägt von unseren Überzeugungen und Gedanken.
Bedeutet es also, dass wir uns von allen weltlichen, materiellen Gegenständen trennen sollten? Nein. Weder die Religion noch minimalismus Experten stimmen dieser Aussage zu. Hier ist das Wort „Maß“ von Wichtigkeit. Rechnen wir den Überfluss und den Übermaß zusammen, dann bekommen wir als Ergebnis die Überforderung. Je weniger Überflüssiges man mit sich rumschleppt, desto klarer wird der Blick. Laut Minimalisten*innen tragen wir zu viel Ballast mit, der uns buchstäblich die Sicht verstellt. Je besser der Ausblick durch Entrümpeln wird, desto leichter erkennt man Zusammenhänge und kann Wichtiges von Unwichtigen trennen. Das soll demnach dazu führt, dass man effizienter arbeitet und Entscheidungen schneller, einfacher und richtiger fällt.
Minimalistisch leben – Eine Utopie?
Seien wir mal ehrlich: Brauchen wir wirklich einen neuen, mehrdeutigen Begriff für etwas, dass es schon immer gab? Das „einfache Leben“ gab es eigentlich schon immer. Vor einigen Jahrhunderten war es einfach eine Lebenssituation, in die man freiwillig oder unfreiwillig geriet. Dann kam die Industrialisierung, danach die Digitalisierung. Das Leben wurde immer bunter, lauter, vielfältiger und brachte uns neben zahlreichen Vorzügen auch Nachteile wie Stress und Reizüberflutung. Deshalb steigt der Wunsch nach Einfachheit insbesondere in den Industrieländern drastisch, denn viele Menschen sind mit der Situation überfordert.
Sind es nicht Zwänge und Vorgaben, die man dank minimalistischem Lebensstil loswerden möchte? Ist der Versuch möglichst viel Minimalist*in zu werden, noch Minimalismus?
Was passiert, wenn das Entrümpeln immer weiter geht und irgendwann sich alles nur darum dreht, ob drei T-Shirts eins zu viel sind. Macht es den Alltag wirklich einfacher? Minimalismus bedeutet nicht automatisch „weniger ist besser“. Strebt man nur noch danach, möglichst wenig zu besitzen, und sieht dies als perfekten Minimalismus an, hat man nichts erreicht. Denn letztendlich dreht sich wieder alles um materielle Dinge.
Dabei sollte doch das Ziel eines minimalistischen Lebensstils sein, sich vom Streben nach Perfektion und der ständigen Auseinandersetzung mit Dingen zu verabschieden.
Es bedeutet vor allem, selbst zu entscheiden, worin man Zeit, Energie und Geld steckt, um Ziele und Wünsche zu verwirklichen. Daher muss auch jeder für sich herausfinden, wie sein Minimalismus aussieht. Für den einen reicht ein Notebook und ein Koffer mit Klamotten für eine Woche, für den anderen ist es ein kleines Haus, gerade groß genug für seine Familie. Relevant ist nicht die tatsächliche Ausführung, sondern der Gedanke. Denn Minimalismus ist kein Ziel, sondern ein Werkzeug, ein Hilfsmittel.
Bevor wir uns in das minimalistische Leben hineinstürzen, müssen wir als erstes unser Bewussten minimalisieren. Unsere Gedanken und Absichten reinigen. Unser inneres ausmisten. Verstehen, sehen, selektieren und denken. Glauben wir nicht daran, dass alles weltliche vergänglich ist? Was nehmen wir nach unserem ableben mit? Was können wir verantworten? Daher sollte man sich die Frage stellen: „Besitze ich die Dinge – oder besitzen die Dinge mich“?. Oder viel eher: „Wer ist der eigentliche Besitzer“?
- Von Kübra Layik