„Meinst du, ich maße mir wirklich an, das Rechte zu wissen? Nein, ich vertraue nur, was man so redlich tut, um das man so bitter sich quält, das kann vor Gott und den Menschen nicht ganz ohne Sinn und Wert sein.“
-Tolstoi zu seiner Frau Sofja, in Stefan Zweigs erdachtem Epilog zu Tolstois „Und das Licht scheinet in der Finsternis“
Diese fiktiven Worte geben Auskunft über die tatsächliche, ideelle Diskrepanz eines literarischen Genies zwischen seinem Denken, seiner Träume und Utopien in Bezug auf die Selbstfindung in der Welt einerseits und seines zwanghaften, alltäglichen Lebens andererseits. Als ein privilegiertes Grafenkind erblickte Tolstoi das Licht der Welt und durfte deswegen die, für viele der damaligen Menschen luxuriöse, Frage nach dem Sinn seiner Existenz stellen. Allein um dieser Frage Rechnung zu tragen, warf er sich immer wieder in unterschiedliche Bereiche des Lebens. Sein Leben scheint eine nie endende Aktivität gewesen zu sein, die der Auffindung eben jenes Sinns gewidmet war. Zunächst das Studium der Orientalistik, dann der Dienst in der Armee, die reformpädagogischen Bemühungen rundum das „Reich der Kinder“, die Schriftstellerei und so weiter. Je tiefer er allerdings in die Gefilde des Ideellen eindrang, umso mehr schien er sich seines persönlichen Lebens zu entfremden. Der Kampf für die Leidtragenden seiner Gesellschaft, den kein ein anderer literarisch in solch einem Niveau aufbereitete, kollidierte mit seinem eigenen Lebensstil. Wie so oft in der Geschichte, spielte sich auch hier ein Kollaps zwischen Theorie und Praxis ab. Erst kurz vor seinem Tod, wieder einmal nach einem Streit mit seiner Ehefrau Sofja, konnte er den Entschluss fassen, alles aufzugeben und als einer derer, für deren Rechte er Jahrzehnte lang geschrieben hatte zu sterben. Ganz knapp also, erreichte dieser Mann vielleicht das, was wir heute „Selbstfindung“ nennen.
Heute, in unserem Kontext, also dem Deutschland des 21. Jahrhunderts, ist die Frage nach dem Sinn, zumindest potenziell, keine Luxusfrage mehr. Jeder von uns erreicht einmal den Punkt, an dem er sich fragt, was das Ganze denn eigentlich soll und welche Rolle er dabei einnimmt. Zudem wissen wir spätestens seit Bourdieu, dass die Frage nach dem Selbst unvermeidlich mit den sozialen Strukturen verbunden ist, denen wir teils ausgesetzt sind und die wir teils – vermeintlich – selbst aufsuchen. Haben nicht viele nur deshalb Rock oder Punk gehört, um eine Gemeinsamkeit mit dem Schwarm zu haben? Fußball gespielt, weil alle anderen Kinder in der Nachbarschaft es auch gespielt haben? Rap-Rhymes auswendig gelernt, um damit vor anderen zu prahlen? Oder auch Glaubensstätte besucht, weil es die Eltern vorgemacht haben? Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Die Frage, die sich hierbei stellt, ist, wie viel, von dem wir meinen, es seien wir, spiegelt unser tatsächliches Selbst wider?
An diesem Punkt bietet es sich an, die bisher überaus allgemein beschriebene Problematik auf eine ganz bestimmte Phase des Lebens zu spezifizieren. Die Rede ist von der Zeit, in der viele von uns vielleicht das erste Mal ihre vertraute Umgebung verlassen und sich auf ein ganz neues Abenteuer in ihrem Leben einlassen: Das Studium. Gerade wir, als deutsche Muslime mit unseren variablen nationalen Hintergründen sind ohnehin – auch ohne den Lebensabschnitt Studium – tagtäglich mit identitären, inneren Konflikten beladen, die uns unser Leben erschweren. Am meisten noch trifft diese Tatsache aber auf die junge Generation studierender Muslime zu. Seien wir mal ehrlich, wie viele von uns haben vor ihrer Studienzeit solch eine Fülle von ideellen, kulturellen und noch vielen weiteren Diskrepanzen erlebt? Haben nicht die meisten von uns sich vor allem in jener Lebensphase gefragt, wer sie, vor dem Hintergrund der schier unendlichen Meinungen, Weltanschauungen oder auch Lifestyles sind? Sind wir beispielsweise nun deutsch oder arabisch, türkisch, kurdisch und was auch immer? Oder doch beides? Geht das überhaupt? Sind wir Muslime- wenn ja, warum? Was ist der Unterschied zwischen Glauben und Wissen? Wissen wir, woran wir glauben – glauben wir an das, was wir zu wissen meinen?
Fragen über Fragen, die den einen oder anderen an seine Grenzen bringen. Zu immer weiter ausartenden Lektüren treiben, nervös machen, ja, den Schlaf rauben. Andere wiederum stellen sich diese Fragen erst gar nicht und geraten ganz selbstverständlich in den Sog facettenreicher, kultureller Einflüsse. So sind wir nun einmal. Ganz unterschiedliche Menschen. Doch eines eint uns, junge, deutsche Muslime, alle: Die Tatsache, dass die Studienzeit etwas mit uns macht. Dieser Zustand ist Fluch und Segen zugleich.
Wenn wir uns dessen bewusst sind, dann können wir vielleicht, aber auch nur vielleicht, ganz bewusst auf diese Veränderung einwirken. Wir können z.B. das Gespräch zu inspirierenden Menschen häufiger aufsuchen oder unterschiedliche Bücher von der Lehre der Seele Platons über die metaphysischen Abhandlungen eines Fakhr ad-Din ar-Razi bis hin zur Psychoanalyse Freuds lesen, uns diverse Meinungen zu diversen existenziellen Fragen einholen und den gewagten Versuch unternehmen, die Inhalte dieser zu verdauen. Alles, um am Ende eines jeden Tages uns selber die alles entscheidende Frage zu stellen: Wer bin ich? Ich, der all dies hört, all jenes liest und sieht?
Sich diese Fragen überhaupt bewusst zu stellen ist ein wichtiger Meilenstein auf unserer Reise. Wenn wir ganz bewusst den Prozess der Selbsterkundung initiieren, werden wir früher oder später auch unweigerlich auf historische Figuren stoßen, die durch dasselbe Leid geprägt waren und deren Geschichten uns auf unserer persönlichen Reise inspirieren werden. Ist die Frage nach dem Selbst nicht der Grund dafür, dass beispielsweise der große Abu Hamid al-Ghazali gar krank wurde und erst durch ein Jahrzehnt der Askese wieder zu sich, also zu seinem Herrn fand? Warum der spirituelle Meister und Universalpoet Jalal ad-Din ar-Rumi seine Unterrichte vernachlässigte, sich in sein Kämmerlein einschloss, um in dem Spiegel der Personifikation Des Geliebten sich selbst zu betrachten? Oder warum auch Tolstoi sich in hohem Alter auf Reisen begab, um zumindest nicht in einem Zustand der Selbstignoranz zu sterben?
Diese unterschiedlichen Menschen verband vor allem ihre gemeinsame Sehnsucht nach sich Selbst. Auch wir können uns in die Kette der Suchenden eingliedern, insofern wir die Pein akzeptieren, stets zu suchen, aber nie Gewissheit über das Gefundene zu erlangen. So aufregend also die Frage nach dem Selbst auch ist, umso ernüchternder muss eine endgültige Antwort darauf ausfallen: Wir können es nie wirklich wissen. Nie Gewissheit über das erlangen, wonach wir uns sehnen und die alten Athener sich schon sehnten.
Doch obgleich wir nie die Gewissheit erlangen, nähern wir uns doch ganz unscheinbar dem Ziele unseres epistemologischen Pfades insofern, als dass jeder einzelne Schritt auf jenem Pfad etwas mit uns macht. Uns verändert. Transformiert. Wir erkennen also, indem wir werden und wir werden, indem wir uns an das herantasten, wovon wir ausgehen, es sei die Gewissheit. Das also, was einzig und allein bleibt, ist die nie endende Bemühung, das Ringen um diese so wertvolle Selbsterkundung.
Wir also, als muslimische Studierende, müssen der Vielfalt offen entgegentreten und uns in dieser und durch diese einen Weg zu uns selbst bahnen. Denn all dies, um wieder auf das zu Beginn angeführte Zitat zurückzukommen, kann fürwahr nicht ganz ohne Sinn und Wert sein.
- Von Hakan Erdem